Van Reybroucks Vater arbeitete unmittelbar nach der Unabhängigkeit der früheren belgischen Kolonie Kongo dort als Eisenbahningenieur. Sein Sohn promovierte an der Universität Leiden in den Niederlanden.
Van Reybroucks erstes Buch im Jahre 2002 war De Plaag (Die Pest). Es spielt in Südafrika nach dem Ende der Apartheid und wurde in den Niederlanden und in Belgien mit mehreren Preisen ausgezeichnet. 2007 war er Mitautor an einem Situationsbericht über sein Heimatland, welchem 2008 ein provozierendes Buch mit dem Titel Pleidooi voor populisme. Pamflet (Plädoyer für den Populismus) folgte. Sein bekanntestes Buch ist aus dem Jahre 2010 Congo. Een geschiedenis, das 2012 in deutscher Sprache erschien. Es schildert die Geschichte des Kongo von der Kolonialzeit bis in die jüngste Vergangenheit.
Mit feierlichem Gefühl in der Wahlkabine stehen und ein Kreuzchen machen – viele Menschen in demokratischen Gesellschaften sehen im Wählen ihre erste Bürgerpflicht. Eine Demokratie ohne Wahlen gilt den meisten als undenkbar.
«Wir vergessen, dass wir erst seit 200 Jahren Wahlen haben. Die Demokratie ist aber schon 3.000 Jahre alt», sagt der belgische Historiker David Van Reybrouck. Er hat einen umwerfenden Essay geschrieben, mit dem er jeden ins Grübeln stürzt, der Wahlen für ein selbstverständliches und notwendiges Instrument moderner Demokratien hält. »Es ist eine nicht sehr populäre Schlussfolgerung, aber wir müssen sie ziehen: Wahlen sind heutzutage primitiv. Eine Demokratie, die sich darauf reduziert, ist dem Tode geweiht.»
Die Demokratie auf der Intensivstation – und der Historiker David Van Reybrouck hat sich den Arztkittel übergestreift. Sein Buch ist in vier Teile gegliedert: Es gibt Symptome und Diagnosen, eine Pathogenese und schließlich die Therapie. «Die Symptome, an denen die westliche Demokratie krankt, sind ebenso vielfältig wie unbestimmt, aber wer Wahlverweigerung, Wählerwanderung, Mitgliederschwund bei den Parteien, (…) Angst, bei den Wahlen zu versagen, (…) chronisches Wahlfieber, erschöpfenden Medienstress, Misstrauen, Gleichgültigkeit und andere hartnäckige Krämpfe nebeneinanderlegt, sieht die Konturen eines Syndroms aufdämmern, des Demokratiemüdigkeitssyndroms, (…) an dem zahlreiche westliche Gesellschaften unverkennbar leiden.»
Wahlen behindern die Demokratie
Und schuld an diesem Demokratiemüdigkeitssyndrom sind nach Ansicht des Autors ausgerechnet die Wahlen: Sie stammten aus einer Zeit, als Bürger noch Untertanen waren und Politik noch nicht zur Seifenoper im Fernsehen verkommen war, als es noch keine Massenmedien und sozialen Netzwerke gab, keinen hysterischen Wahlkampf, keinen permanenten Profilierungsdruck für Politiker. Wahlen seien einst erfunden worden, um die Demokratie zu ermöglichen, schreibt Van Reybrouk. Heute hingegen behinderten sie die Demokratie. »Wir sind alle Wahlfundamentalisten geworden. Wir missachten die Gewählten, aber vergöttern die Wahlen.»
David Van Reybroucks Argumentation ist schlüssig und durchdacht, er unterfüttert seine Überlegungen mit zahlreichen Beispielen und Daten – seiner Analyse einer brüchig gewordenen Demokratie ist kaum etwas entgegenzusetzen. Auch wenn es etwas reißerisch klingen mag, von einer «Diktatur der Wahlen» zu sprechen: »Zum ersten Mal seit der Amerikanischen und der Französischen Revolution ist das Gewicht der nächsten Wahl größer als das der vorigen. Das ist eine erstaunliche Transformation.»
Plädoyer für die deliberative Demokratie
Erstaunlich klingt allerdings auch die Therapie, die David Van Reybrouck vorschlägt: Losverfahren! Die legislative Gewalt soll also nicht mehr oder nicht mehr ausschließlich gewählten Bürgern übertragen werden – sondern Bürgern, die für diese Aufgabe ausgelost wurden. Man kennt dieses Prinzip in einigen Ländern in der Rechtsprechung – dort, wo es Laien- oder Geschworenengerichte gibt. David Van Reybrouck wünscht sich diese Methode auch für die Gesetzgebung: »Das Losverfahren, das demokratischste aller politischen Instrumente, musste im 18.Jahrhundert gegenüber Wahlen den Kürzeren ziehen; Wahlen waren jedoch nie als demokratisches Instrument gedacht gewesen, sondern als Verfahren, um eine neue, nicht-erbliche Aristokratie an die Macht zu bringen.»
Demokratie heiße aber eben nicht, dass die Besten regieren – dann nämlich sei es eine gewählte Aristokratie. Viel demokratischer wäre – und das kann der Autor gut begründen - ein statistisch ausgeklügeltes Losverfahren, weil so Bürger ausgewählt würden, die tatsächlich die gesamte Gesellschaft repräsentieren. Die ausgelosten Bürger sollen sich in politische Themen einarbeiten, Experten anhören, sich beraten – und schließlich entscheiden. Das Argument, gewöhnliche Bürger seien dazu nicht in der Lage, kann David Van Reybrouck entkräften: «Es ist wichtig, sich bewusstzumachen, dass die Gründe, die man heute gegen ausgeloste Bürger anführt, häufig mit den Gründen identisch sind, die man seinerzeit gegen die Verleihung des Wahlrechts an Bauern, Arbeiter oder Frauen anführte. Auch damals wandten die Gegner ein, dass dies wohl das Ende der Demokratie sein würde.»
Der Historiker bezieht sich auf das schon vielfach beschriebene Konzept deliberativer Demokratie, ein politisches System also, in dem der öffentliche Diskurs und die Beratung im Vordergrund stehen. Er zeigt anhand einzelner politischer Verfahren in verschiedenen Ländern, dass solche Modelle funktionieren können. Der mündige und aufgeklärte Bürger soll entscheiden – aber anders als es etwa in Volksabstimmungen vorgesehen ist: »Bei einem Referendum bittet man alle, über ein Thema abzustimmen, mit dem sich meist nur wenige auskennen, bei einem deliberativen Projekt bittet man eine repräsentative Stichprobe von Menschen, über ein Thema zu beraten, zu dem sie alle möglichen Informationen erhalten.»
Die erste Bürgerpflicht hat Kratzer
Denkbar wäre etwa ein Zweikammersystem: eine Kammer mit gewählten Politikern, eine weitere mit Bürgern, die im Losverfahren bestimmt wurden. »Wir müssen heute hin zu einem birepräsentativen Modell, einer Volksvertretung, die sowohl durch Abstimmung als auch durch Auslosung zustande kommt. Beide haben schließlich ihre Qualitäten: die Sachkompetenz von Berufspolitikern und die Freiheit von Bürgern, die nicht wiedergewählt zu werden brauchen. (…) Das birepräsentative Sytem ist im Moment das beste Mittel gegen das Demokratiemüdigkeitssyndrom, an dem so viele Länder leiden.»
Ob eine ausgeloste Bürgerversammlung für die Massenmedien tatsächlich weniger Angriffsfläche böte, weil die Mitglieder nicht prominent wären und auch nicht um ihre Wiederwahl kämpfen müssten, wie David Van Reybrouck schreibt, das sei einmal dahingestellt. Auch in einer solchen Kammer würden sich vermutlich einzelne Personen hervortun und die mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Viel wichtiger aber ist die grundsätzliche Idee, die der Historiker glänzend formuliert. Wer dieses Buch gelesen hat, wird das nächste Mal mit einem anderen Gefühl in der Wahlkabine stehen: Die erste Bürgerpflicht hat Kratzer bekommen.
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