«Ach, Geschichte. Ah, Leben.»
Laudatio auf Peter Handke
von Thomas Oberender
«Aber die Erinnerung kommt nie von vorne auf einen zu – sie kommt seitlich um die Ecke. Allem, was ich sah und hörte, war ich gewissermaßen ausgeliefert. Anstatt dass ich die Gegend nach ihr abjagte, begann sie mich plötzlich in meiner Seele herumzujagen. Sie jagte mich!» Diese Sätze, ich las sie unlängst in einer Erzählung von Carson McCullers, ließen mich unwillkürlich an Peter Handke denken. Der Erzähler seines Stückes Immer noch Sturm könnte sie gesagt haben, oder eben der Autor selbst, wenn er über Slowenien spricht, das Jaunfeld, seine Erinnerung an diese Landschaft und seine Vorfahren, die scheinbar in Handkes Seele von seinem erstem Roman bis heute herum jagen, bis zu seinem Stück Immer noch Sturm, für das er, mit neunundsechzig Jahren, nach fünf vergeblichen Nominierungen, nun zum ersten Mal den Mülheimer Dramatikerpreis gewinnt.
«Immer noch Sturm» ist ein Stück Familienerinnerung, die seitlich um die Ecke kommt. Es schildert die Geschichte einer kärntnerslowenischen Kleinhäuslerfamilie aus der Sicht eines Erzählers, der vom Autor «Ich» genannt wird. Dieses «Ich» ist nicht wirklich Peter Handke persönlich. Es ist auch nicht wirklich Herr der von ihm provozierten Lage, denn die Sippe seiner slowenischen Ahnen, die es auf ihrer heimatlichen, kärntnerischen Wiese herbeiruft, ist in ihrem Kommen und Gehen und auch in ihren Reaktionen durchaus eigenwillig. Gemeinsam geht dieses «Ich» mit seiner verstorbenen Mutter, die nun als blutjunge Frau vor ihm steht, mit seinen ebenfalls noch jungen Großeltern und den Geschwistern seiner Mutter, in diesem Stück auf eine Zeitreise entlang der Ereignisse im Jaunfeld zwischen 1936 und unseren Tagen. Drei der vier Geschwister seiner Mutter kostet das ihr Leben.
Diese Zeitreise ist halb ein Traumspiel, halb hat sie dokumentarischen Charakter.
Traumspiel ist sie, weil hier Tote mit Lebenden verkehren und das Geschehen sich innerhalb weniger Stunden durch viele Jahre bewegt, gegliedert nur durch ein wiederholtes, bisweilen kaum bemerkbares Innehalten inmitten des szenischen Geschehens, so dass die Stromschwellen innerhalb der fließenden Ereignisse deutlich werden: Reisen, Feste, Todesfälle innerhalb dieser Familie, aber auch sehr zarte Momente, da Menschen plötzlich Gedanken, Bilder oder Gefühle überkommen, die tief greifen, und doch flüchtig bleiben und bleiben sollen.
Dass diese Zeitreise zugleich dokumentarisch wirkt, liegt wiederum an der Fülle der präzisen Details und Spezifika, mit denen das Arbeits- und Beziehungsleben auf dem Hof, der Einbruch des zweiten Weltkriegs, der Liebe, und genauso die Realität des Partisanenkriegs und des Kalten Krieges geschildert werden. Hier vermischt sich das bis in die kleinsten Nuancen erforschte Figurenleben jedes Charakters mit der Akribie eines anschaulichen Historikers. So entsteht inmitten dieses in seinem erzählerischen Verfahren offenbar stets gebrochenen Stückes dennoch eine frappierende Unmittelbarkeit des Geschehens – alles wirkt schon beim Lesen und später auf der Bühne unerhört frisch und keineswegs vorsätzlich. Diese Wirkung der Unmittelbarkeit resultiert neben der präzisen Faktenfülle in hohem Maße auch aus der gesetzten Spontaneität der szenischen Sprechweise, ihrem situativen Charakter, also den Abschweifungen, Pöbeleien und Witzen zum Beispiel, durch die das Gesuchte so frisch gefunden wirkt.
Diese erzählerisch sehr lebendige Zeitreise gliedert sich in fünf Teile und ist, obgleich ihr Text keiner literarischen Konvention folgt, eine Tragödie im antiken Sinn des Wortes – des Scheiterns der Helden, des Offenbarwerdens ihrer Hybris, der Unentrinnbarkeit aus den Verhängnissen des Schicksals und ihres eigenen Charakters. Erzählerisches mischt sich in diesem Stück eigentümlich mit Dramatischem und Lyrik, aber die Sache berührt. Man wird nie vergessen, wenn der alte Erzähler auf der heimatlichen Wiese seiner Mutter gegenübersteht, ihr die Hand auf den Bauch legt, in dem er heranwächst und sich kurze Zeit später und dann immer wieder selbst gegenübersteht. Immer noch Sturm ist ein flirrendes Epos, wenn man so will, aber nie ein Selbstgespräch, nie nur berichtende Mauerschau vom Blick in den Garten der Geschichte, sondern stets ein dramatisches Tableau, von verborgener Hand bewegt, das in seinen Konstellationen spricht, oft ohne Worte, und dann wieder die Wechselreden der Figuren untereinander und mit oder gegen den Erzähler sehr effektvoll organisiert. So ist eben noch zu hören, wie Valentin in seinem Brief das Glück im Krieg beschreibt, die Stimmen derer, die seine Worte aufgreifen, kommentieren und vortragen fließen ineinander, machen den Bericht so äußerst lebhaft und froh, da wird vom Vater ein zweiter Brief geöffnet, mit der Todesnachricht des anderen Sohnes. Zwischen beiden Aussagen liegt nur ein Absatz, ein «Innehalten», und so ist das ganze Stück ein stetes Wechselbad der Erfahrungen.
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