Ich stieß auf Helga Lutz Aufsatz im Programmheft zu Thom Luz Inszenierung von Max Frisch’ «Der Mensch erscheint im Holozän» am DT Berlin Spielzeit 2016/17
«Armand Schulthess hat sein Land, insgesamt 18000 Quadratmeter, in ein gewaltiges Nachschlagewerk verwandelt, in einen Wissenskosmos, in dem alles Wissen der Zeit verzeichnet sein sollte. Das Gelände ist bergig, ein Kastanienwald am Hang, der nicht leicht zu bespielen ist. Eine Gegebenheit, die Schulthess im Sinne einer evolutionistischen Achse nutzte: In den tiefer gelegenen Bereichen sind die Geologie, die Paläontologie und die Anthropologie angesiedelt. Folgte man dann der sich in Serpentinen hoch schlängelnden alten Kantonsstraße und den anderen Pfaden, die das Gelände durchziehen, dann durchwanderte man die Wissensfelder der Mineralogie, der Botanik, der Chemie, dem Thema des Weltraums und der Kybernetik. Im oberen Teil und in der Nähe des Hauses konnte man sich gehend mit Optik, Musik, Bildender Kunst, Theologie, Psychoanalyse, Sexualität und Astrologie beschäftigen. Bei den unzähligen Täfelchen – es müssen viele Tausend gewesen sein – auf denen Schulthess das Wissen möglichst vollständig zu verzeichnen suchte, handelte es sich zumeist um flachgedrücktes Blech von Konservenbüchsen, das mit gelblicher Farbe grundiert und anschließend mit Stricknadel und farbiger Ölfarbe beschrieben wurde. Miteinander verbunden und in Bezug gesetzt wurden die Wissenspartikel durch Schnüre, Drähte oder weiß isolierte Zündschnur. «Klassieren» so beschrieb Schulthess das, was er da tat. Wissensstoff sammeln, ordnen, abschreiben, auflisten. Auf manchen Täfelchen wird Wissen zusammengefasst, andere sind eher im Sinne eines Zettelkastensystems als karteikartenartige Verweise auf Bücher, Texte oder Geräte zu lesen, die sich zum Teil in seinem Haus befinden und die, wie es immer wieder heißt, von Reisenden dort ausgeliehen werden konnten.
Armand Schulthess groß angelegte Inszenierung des Wissens führt somit den Übergang eines Systems oder einer Taxonomie in etwas vor, was nur mit dem Begriff des Netzes oder des Rhizoms gefasst werden kann. Während ‚System‘ die Vorstellung von Kontrollierbarkeit und Autorschaft noch impliziert, ist das Netzförmige etwas, was sich dieser Verfügbarkeit durch nicht mehr deduktiv erschließbare oder kausal angelegte Strukturen entzieht.«
Auf der Website Wissen der Künste
Helga Lutz studierte Kunstgeschichte, Philosophie und Literaturwissenschaft in London, Heidelberg, Berlin und promovierte 1999 mit einer Arbeit zu den Texten und Zeichnungen von Unica Zürn. Anschließend war sie Postdoctoral Fellow an der University of California, Berkeley und Postdoktorandin am Graduiertenkolleg «Codierung von Gewalt im medialen Wandel» der Humboldt Universität zu Berlin. Ab 2004 war sie wissenschaftliche Koordinatorin des Graduiertenkollegs «Mediale Historiographien»(Weimar/Erfurt/Jena) sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft der Universität Erfurt. Seit 2014 ist Lutz Teilprojektleiterin in der DFG-Forschergruppe «Medien und Mimesis» an der Bauhaus-Universität Weimar. Sie arbeitet an einem Habilitationsprojekt zum Thema «Hybride Dinge. Zur Operationalisierung des Realen in der Vor- und Nachmoderne» (Arbeitstitel).