«Das postfaktische Zeitalter»
Eduard Kaeser
Es gibt Daten, Informationen und Fakten. Wenn man mir eine Zahlenreihe vorsetzt, dann handelt es sich um Daten: unterscheidbare Einheiten, im Fachjargon: Items. Wenn man mir sagt, dass diese Items stündliche Temperaturangaben der Aare im Berner Marzilibad bedeuten, dann verfüge ich über Information – über interpretierte Daten. Wenn man mir sagt, dies seien die gemessenen Aaretemperaturen am 22. August 2016 im Marzili, dann ist das ein Faktum: empirisch geprüfte interpretierte Daten.
Dieser Dreischritt – Unterscheiden, Interpretieren, Prüfen – bildet quasi das Bindemittel des Faktischen, «the matter of fact». Wir alle führen den Dreischritt ständig aus und gelangen so zu einem relativ verlässlichen Wissen und Urteilsvermögen betreffend die Dinge des Alltags. Aber wie schon die Kurzcharakterisierung durchblicken lässt, bilden Fakten nicht den Felsengrund der Realität. Sie sind kritikanfällig, sowohl von der Interpretation wie auch von der Prüfung her gesehen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben: Es kann durchaus sein, dass man uns zwei unterschiedliche «faktische» Temperaturverläufe der Aare am 22. August 2016 vorsetzt.
Was nun? Wir führen den Unterschied zum Beispiel auf Ablesefehler (also auf falsche Interpretation) zurück oder aber auf verschiedene Messmethoden. Sofort ist ein Deutungsspielraum offen. Nietzsches berühmtes Wort hallt wider, dass es nur Interpretationen, keine Fakten gebe. Oder wie es im Englischen heisst: «Facts are factitious» – Fakten sind Artefakte, sie sind künstlich.
Diese Ansicht ist quasi das Amen des postmodernen Denkens. Und als besonders tückisch an ihr entpuppt sich ihre Halbwahrheit. Es stimmt, dass Fakten oft das Ergebnis eines langwierigen Erkenntnisprozesses sind, vor allem heute, wo wir es immer mehr mit Aussagen über komplexe Systeme wie Migrationsdynamik, Meteorologie oder Märkte zu tun bekommen. Der Interpretationsdissens unter Experten ist ja schon fast sprichwörtlich.
Als eine regelrechte Sumpfblüte aus dem Szenario des «Bullshits» präsentiert sich der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump.
Aber Künstlichkeit des Faktischen bedeutet nun gerade nicht Unverbindlichkeit. Dieser Fehlschluss stellt sich nicht nur für die Erkenntnistheorie als ruinös heraus, sondern vor allem auch für die Demokratie. Zur Erläuterung benütze ich drei politische Szenarien: jenes der Wahrheit, jenes der Macht und jenes des «Bullshits».
Im Szenario der Wahrheit überprüfen wir eine Aussage, bis wir den robusten Konsens für einen Entscheid gefunden haben: Die Aussage ist wahr oder falsch, tertium non datur. Lügner werden überführt, wie US-Aussenminister Colin Powell, der 2003 in der Uno die Intervention im Irak mit falschen faktischen Behauptungen begründete. Dieser Makel haftet ihm bis heute an. Dies gerade auch – und das muss man ihm zugutehalten –, weil Powell das Szenario der Wahrheit anerkennt. George W. Bush und seine Kamarilla im Irakkrieg etablierten dagegen das Szenario der Macht.
Ron Suskind, Journalist bei der «New York Times», zitierte 2004 einen Chefberater der Regierung Bush. «Er sagte, Typen wie ich gehörten, wie das genannt wurde, der ‹realitätsbasierten› Gemeinschaft an», schreibt Suskind. Aber so funktioniere die Welt nicht mehr: «Wir sind jetzt ein Weltreich», so der Berater, «und wenn wir handeln, schaffen wir unsere eigene Realität. Und während Sie in dieser Realität Nachforschungen anstellen, handeln wir schon wieder und schaffen neue Realitäten, die Sie auch untersuchen können, und so entwickeln sich die Dinge. Wir sind die Akteure der Geschichte, und Ihnen, Ihnen allen bleibt, nachzuforschen, was wir tun.»
Als eine regelrechte Sumpfblüte aus dem Szenario des «Bullshits» präsentiert sich der gegenwärtige republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump. Mit demonstrativer Schamlosigkeit produziert er Unwahrheiten und Widersprüche und schert sich einen Dreck um die Folgen. Paradoxerweise macht ihn diese Unglaubwürdigkeit umso glaubwürdiger, weil er sich im «Bullshit» geradezu suhlt. Er tritt auf mit dem Habitus: Seht doch, ich bin der, als den ihr Politiker schon immer sehen wolltet – ein Behaupter, Wortverdreher, Lügner! Ich bin nur ehrlich – ehrlich unehrlich! Das postfaktische Zeitalter lässt sich nun einfach dadurch charakterisieren, dass in ihm das Szenario der Wahrheit gegenüber den beiden anderen Szenarien immer mehr an Gewicht verliert.
Demokratie ist der politische Raum, der uns das Recht für das Fragen und Prüfen gibt. In ihm beugt sich die Macht dem Argument, nicht das Argument sich der Macht.
In der digitalen Welt wird es schwieriger, zu überprüfen, was wahr ist und was nicht. Ein Permaregen von Informationen lässt uns fast nichts anderes übrig, als allmählich auf Standards wie Objektivität und Wahrheit zu verzichten. An die Stelle des Faktums tritt das Faktoid. Die sozialen Netzwerke tragen das Ihre zum Bestätigungsbias bei, das heisst zur Neigung, nur das als «Faktum» zu akzeptieren, was man ohnehin schon glaubt. Winston Smith in Orwells «1984» wird durch Folter dazu gebracht, zu glauben, dass zwei und zwei fünf ist. Der Punkt, so erläutert der Folterer, sei, dem Gefolterten klarzumachen, dass es keine Wahrheit ausser der von der Partei verkündeten gibt.
Heute brauchen wir keine Folterer, wir haben Politiker wie Trump und seine Spin-Doctors. Gewöhnen wir uns an sie, verlieren wir die Basis unserer Kritikfähigkeit, also unseren Faktenbezug. «Das Furchtbare», heisst es bei Orwell, «war nicht, dass sie einen umbrachten, wenn man anders dachte, sondern dass sie vielleicht recht hatten.» Am Ende sind wir nicht mehr sicher, ob zwei und zwei vier ergibt. Genau eine solche Verunsicherung bezweckt der «Bullshitter».
Der Appell an die Wahrheit – so altväterisch er klingen mag – ist überlebenswichtig für demokratische Gesellschaften. Sie benötigen das Tribunal der Fakten, das heisst Institutionen, die stark und neutral genug sind, dem Bürger eine tragfähige Basis für seine Entscheidungen zu garantieren. Traditionell sind dies Universitäten, Statistikbehörden, Medien. Das Vertrauen in sie schwindet heute stetig. Die Verdrossenheit gegenüber den Modellen, Analysen, Prognosen der Experten tendiert dazu, dass sich nun jeder zum Experten erklärt. Das Zeitalter des Postfaktischen ist auch eines des Postexpertentums. Wenn aber jeder recht hat, hat niemand recht. Wo die Leitplanken des Faktischen demontiert werden, beginnt die Wildbahn der Stimmungsmache.
Es schlägt die Stunde der Dogmatiker, Demagogen und Dummschwätzer. Der britische politische Ökonom Will Davis schrieb kürzlich mit Blick auf den Brexit: «Wir haben nicht mehr stabile, ‹faktische› Darstellungsweisen der Welt, vielmehr noch nie da gewesene Sensoren und Monitoren dafür, was wo hochkocht, wer was fühlt, was die allgemeine Stimmung ist. (…) Marktprognosen sind kaum mehr als eine Sammeldarstellung der (…) Gefühle und Stimmungen, die man auch über Twitter entdecken kann. Ihr Hauptanliegen ist nicht das Mitteilen von Wahrheit, sondern das Aufzeichnen von Launen.»
Bewirtschaftung von Launen: Das ist die politische Verlockung des postfaktischen Zeitalters. Ihr kommt die Internetgesellschaft als «Nichtwissenwollengesellschaft» entgegen. Wir fragen nicht, wie man objektives Wissen gewinnt und wie es begründet ist. Wir googeln. Wir haben die Suchmaschine bereits dermassen internalisiert, dass wir Wissen und Googeln gleichsetzen.
Das führt zum gefährlichen Zustand erkenntnistheoretischer Verantwortungslosigkeit. Google-Wissen ist Wissensersatz. Es treibt uns das «Sapere aude» Kants aus: Wagnis und Mut, nach Gründen zu fragen, eine Aussage zu prüfen, bis wir herausgefunden haben, ob sie stimmt oder nicht. Demokratie ist der politische Raum, der uns das Recht für dieses Fragen und Prüfen gibt. In ihm beugt sich die Macht dem Argument, nicht das Argument sich der Macht. Allein schon indem man dies ausspricht, muss man zugeben, dass von einem gefährdeten Ideal die Rede ist. Die Zersetzung der Demokratie beginnt mit der Zersetzung ihrer erkenntnistheoretischen Grundlagen. Das heisst, sie ist bereits im Gange. Zeit, dass wir uns bewusstmachen, was auf dem Spiel steht.
Eduard Kaeser ist Physiker und promovierter Philosoph. Er ist als Lehrer, freier Publizist und Jazzmusiker tätig. Zuletzt erschien im Verlag Rüegger der Band «Trost der Langeweile. Die Entdeckung menschlicher Lebensformen in digitalen Welten» (2014).
22.8.2016, NZZ