«Ein Schritt zur Seite und zwei voran»

Laudatio auf Fabian Hinrichs

Von Thomas Oberender

Ich habe ihn das erste Mal kennengelernt, da erschien er als Besucher auf einer Probe am Schauspielhaus Bochum. Er schaute eine Weile zu, saß auf einem Stuhl im Rücken des Regisseurs, hatte eine gesunde Gesichtsfarbe und war ein ungewöhnlich freundlich wirkender junger Mann. Ich glaube, er hat auf dieser Probe einen Apfel gegessen. Er suchte keine Arbeit.

Als ich in der Probenpause fragte, ob er in unserem Theater spielen möchte, wiegte er sich hin und her und raus aus der Frage, ja, vielleicht eine Sache – aber in ein Ensemble gehen - lieber nicht. Das hatte er die Volksbühne gerade hinter sich. Und was ihn für Rollen interessieren? Kann er nicht sagen. Er denkt nicht so - in Rollen, oder mit welchen Regisseuren er arbeiten will. Sagt er, und lächelt kerngesund. Da wollte einer nichts. Sich einen Eindruck verschaffen und wissen, worum es uns geht am Theater. Ernsthaft, genau wegen dieser Frage war er gekommen. Der war neugierig und frei. Das ist sehr attraktiv.

Warum Fabian Hinrichs heute diesen Preis bekommt? Ich kann nur für mich sprechen: Weil er der Vergiftung entgangen ist. War oder ist Fabian Hinrichs ein Schauspieler, der zum Ensemblestar geworden ist? So wie man früher ein großer Schaubühnenstar war, oder Burgtheaterschauspieler ist? Oder ist er das Gesicht eines Regiestars? So wie die berühmten Zadek- oder Fassbinderschauspieler? Oder weil er ein Film- oder Fernsehstar ist?

Ich glaube all das ist er nicht. Nicht in diesem Sinne.

Fabian Hinrichs ist ein Künstler der sich für sehr viele Dinge interessiert, die mit dem Theater unmittelbar wenig zu tun haben. Und er hat scheinbar eine sehr robuste Vorstellung davon, was ihm im Leben, und also auch in der Arbeit, nicht verloren gehen soll. Aus dieser Vorstellung heraus projektiert er offensichtlich seine Entscheidungen – sie können zu Gunsten eines Ensembles ausfallen, aber nur so lange wie es wirklich eines ist. Er folgt den Partnerschaften, nicht den Chefs.

Wenn er ein Schriftsteller wäre, würde ich sagen: Wolfgang Herrndorf, der sprachliche Präzision, reflektierten Zorn und Erbarmen in einen Sound klar gelebter Gegenwart brachte; oder Jerome David Salinger, auch ein Autor des Staunens, mit einer schönen Unverschämtheit, nach seinem «front shock» des zweiten Weltkriegs das bis dahin «Niedrige» stark zu machen. Es sind Stimmen aus dem Innenhof, keine Systemspieler. Oder Majakowski, ein Propagandist, der den geschichtlichen Moment im Jetzt erkannte und zu großem Gesang verwandelte, ein Hypnotiseur der Massen.

Wenn Fabian Hinrichs ein Fotograf wäre, dann vielleicht Wolfgang Tilmanns, der die Schönheit «seiner Leute» sah - einer community am Rand, keine Erfolgstypen, die durch diesen Lichtbildner die Gesichter einer Generation wurden und mit ihnen ging er über Grenzen. Tillmanns erfand in seiner eigenen Art der Ausstellungsgestaltung auch eine andere Form der Präsentation von Fotografie, unprätentiös, scheinbar provisorisch befestigt er seine kleineren Abzüge mit Klebeband oder Stecknadeln an der Wand, aber zugleich präzise und im Wechselspiel mit dem Raum. Wie Fabian Hinrichs arbeitet Wolfgang Tilmanns forschend, arbeitet mit den Bildern anderer, Zeitungsfotografien, profanem Material und seinem persönlichen Archiv. Wie Tilmanns findet auch Fabian Hinrichs, glaube ich, die richtigen Leute.

Wenn er ein Bildhauer wäre – ich denke, dann vielleicht Pierre Huyge, jemand, der begehbare Räume schafft, in denen Natur und Artefakt, Zufall und Inszenierung ein Werk bilden, oder die organischen Ausstellungswelten von Philippe Parreno, in denen Automaten spielen und zeichnen und die Exponate Erlebnisschichten bilden, zwischen denen wir uns bewegen, direkt angespielt - leicht, Wahrgenommen in unserem Dabeisein. Zugleich hat Hinrichs einen Sinn für individuelle Größe und das damit oft verbundene Verhängnis, wie es die Arbeiten von Douglas Gordon zeigen.

Dass Gorden Zinédine Zidane 90 Minuten mit 27 Kameras filmte, würde Fabian Hinrichs wahrscheinlich gefallen. Zidane als Jedermann. Es sind Künstler, in deren Gesellschaft ich Fabian Hinrichs sehe, die jeder auf seine Art die Konvention ihres Mediums überraschend reflektieren und doch einen unmittelbaren Punch haben.

Wie kann aus all dem ein Moment von Sinn entstehen, der flüstert: Weitermachen. Kunst, die das leistet, erschien mir immer als das Höchste des Lebens. Es gibt keine schönere Form von Klugheit. Da passiert etwas sehr Einfaches, und doch - diese Vergleiche machen nur die Fülle der Einflüsse oder Fertigkeiten spürbar, aus denen Fabian Hinrichs Wirkung entsteht. Die Wirkung eines lebendigen Mediums, etwas, durch das hindurch uns etwas anderes anstrahlt, anleuchtet. Das geht nicht, wenn man die Geborgenheit sucht. 

Es gibt Schauspieler, die fühlen sich in ihrer Figur wohl wie in einem Mantel. Kaum haben sie ihn angezogen, vergessen sie schon, dass sie ihn tragen. Für diese Art von Schauspieler oder Schauspielerin, die in ihrer Rolle Bescheid wissen, ist die Sache am Ende in etwas Schlüssigem aufgegangen – lange Probenwochen, Nächte der Lektüre, viele Stunden des Gesprächs führten zu einem Genuss an der höheren Freiheit, die sich einem eröffnet, wenn man eben Bescheid weiß und leicht werden kann – getragen von Verabredungen, die Sicherheit geben für die Ausflüge ins Einmalige. Das ist die eine Möglichkeit.

Was aber, wenn dieses Bescheid-Wissen sich einfach nicht einstellt, weder im Leben oder in der Begegnung mit der Kunst. Beziehungsweise wenn man diese Unsicherheit bewusst sucht. Christoph Schlingensief, im strengen Sinne kein Schauspieler, oder vielleicht gerade doch, hat seine Inszenierungen, zum ersten Mal sah ich es in seinem Zürcher «Hamlet», immer wieder unterbrochen, wenn diese Geborgenheit in den Verabredungen einsetzte. Ich denke, er hat sie nicht ausgehalten. Ihm ging, gerade wenn es gut lief, die Präsenz, nach der er auf der Bühne suchte, verloren; und wenn er also unterbrach und mitten in der Aufführung eingriff, entstand plötzlich ein Moment absoluter Wachheit. Alles musste schlagartig neu organisiert werden. Und ich habe den Verdacht, dass bei Fabian Hinrichs diese Unterbrechung ein ganzes Stück lang dauert.

Ich mag es, dass Fabian Hinrichs sich fragt: Was macht mich wach und aufmerksam auf der Bühne? Was bewirkt, dass das Spiel jedes Mal durchdrungen ist, so dass es sich nicht nur für einen selbst, sondern auch für die anderen neu anfühlt und frisch belebt? Warum soll Hinrichs auf der Bühne Situationen und Gefühlslagen nachahmen? Im Unterschied zum Film ist «die Bühne ist eine viel abstraktere Kunst.»

Fabian Hinrichs ist ein Konzeptschauspieler. Licht an im Saal. Kein Vorhang, winke, winke – und doch keine Anbiederung. Fremder und eigener Text, komplizierte Abläufe, Selbstkommentare und Gesang, absurde Bilder, inmitten derer um Klarheit gerungen wird. Hierfür «kooperiert» er mit Regisseuren, was schon ein Unterschied ist zum «Auftritt in einer Inszenierung von….»  Das verbindet ihn mit Klaus Maria Brandauer, auch ein inszenierender Schauspieler, einer zwischen Bühne und Film. Sie wollen keinen Regisseur als Chef. Zusammenarbeiten auf Augenhöhe, gern. Und wenn der Regisseur weniger begabt ist, geht es auch, solange er das Verhältnis zu Stück und Publikum nicht stört. Wie Klaus Maria Brandauer wird Fabian Hinrichs in seiner Bühnenarbeit immer monologischer, solistischer und beide haben in ihrer Arbeit einen großen Schritt zur Seite gemacht hat – raus aus den Regiefamilien, weg vom Repertoiresystem, zwei Schritt vorwärts in ein selbstorganisiertes Produzieren. Weil der Arbeit sonst etwas Entscheidendes verloren geht, wenn sie Beruf im engen Sinne wird.

In der Schule von Frank Castorf, Christoph Schlingensief, Schorsch Kamerun oder Renee Pollesch sind die Schauspieler besonders tatkräftige Stückvollender – durch ihre erfinderische Zutat werden die Stücke erst zum Ganzen und die Autoren und Regisseure von ihren Konzepten erlöst.

Fabian Hinrichs ging durch diese Schule und manchmal denke ich, dass in seinem Spiel ihre fruchtbarste Summe gezogen wird – etwas, das ganz deutlich nicht nur eine Spielweise wurde, sondern Lebenshaltung. Als ich ihn das letzte Mal etwas länger sprach, und das ist schon eine Zeit her, wollte er mit seiner Freundin nach Ecuador fahren, noch bevor das Kind geboren wurde. Er hat damals Politikwissenschaft studiert, da war er bereits «Schauspieler des Jahres» und hatte gerade den Max Ophüls-Schauspielpreis erhalten. Nach ein paar Semestern Politikwissenschaft machte er mit Kulturwissenschaft weiter und ich erwähne das nicht, weil ich denke, jeder Schauspieler müsste sich an der Uni einschreiben, das ist gar nicht nötig – Fabian Hinrichs studiert eigentlich immer. Ich kenne keinen Schauspieler, der so sekundärstoffhungrig ist wie er, so denklaunig, verblüffungsbedürftig. Er spielt ja scheinbar auch staunend.

Er spielt ja geradezu so, als müsste das Erlebnis, das ihm da auf der Bühne widerfährt, vor allem und zuerst ihn verändern. Er produziert staunend Schönheit. Und Anteilnahme an den Dingen - staunenswürdigen Dingen wie Krakenkostümen oder turnenden Netzmenschen. Er produziert eine reale Begegnung mit dem Publikum. Etwas Unlösbares wird da lösbar: Wir sind da für ihn, durch die vierte Wand hindurch, ohne dass die Kommunion des Spiels an Geheimnis, Dignität und Charme verlöre.

Wenn man Freunde bittet, Fabian Hinrichs als Schauspieler zu beschreiben, sagen sie mehr oder weniger alle: «Ja, der ist speziell.» Undurchschaubar und aufrichtig zugleich, wenn das irgendwie zusammengeht. Jemand mit Reserve wie Devid Striesow. 20 Grad verdreht steht er neben sich als Figur, und wirkt wiederum erstaunt, anhaltend erstaunt über all das, was Leben ist, sein kann. Womit er es aufnimmt und auf der Bühne wird dabei, ich glaube, das danke ich ihm am meisten, nichts wird denunziert: Es gibt kein verachtenswertes Leben. Es gibt Schmerz, Fehler, Euphorie. Das ist alles auch in ihm – er geht da durch und er nimmt uns mit raus, durch die Exittür Kunst. Ein Verschwender. Ein «armer Leute Kind», wie der junge Maler Karl Schmidt-Rottluff unter ein sehr frühes Selbstportrait, auf dem er wild schaut wie Beethoven. Hinrichs ist überzeugt, dass das, was er vor sich sieht, zwar ist, aber nicht gelten darf, «nicht alles gewesen sein kann», um einen durch ihn unvergesslich gewordenen Satz zu zitieren. Das, genau das, ist der Grundvibe, mit dem er sich selbst zur Figur gemacht hat. Denn darauf lief es hinaus.

Was ein Autor auf viele Figuren verteilt, nimmt Fabian Hinrichs als Soloperformer auf sich. Er spielte, unter Laurant Chetuans Regie, nein, kooperierend mit ihm, den Hamlet – d.h. alle Figuren des Stückes auf einmal. Alle führte er durch sich hindurch, mit allen nahm er es auf, aber nicht im Sinne simpler Hybris, so wie auch manche Schauspieler den Faust allein performen, sondern als die Umkehrprobe. Schließlich kamen ja auch alle aus einem Hirn.

In seinen Abenden, gerade denen, die gemeinsam mit Renee Pollesch entstanden sind, wirkt er tatsächlich wie einer, der unser Leid, schön im alten Sinne, ohne Jammer, auf sich nimmt und auf die Bühne trägt. Er hat seine Geborgenheit aufgegeben. Er studiert noch. Er will noch Zeit für sein Kind. Er trifft Journalisten auch gerne in Omacafés am Kudamm, in einem Milieu der Differenz. Nicht so wichtig, oder? Doch – er bastelt sich zusammen.

Hinrichs fehlt die Rollengeborgenheit. Oder sie fehlt ihm gerade nicht! Die Bühnengeborgenheit hingegen liebt er. Diesen Rausch der gesteuerten Begegnung mit Vielen, die, wenn es gut geht, eins werden in seiner Messe der auf der Bühne ausgerannten Fragen, «Fraaaagen», die er sich stellt an diesem Ort, wo alles Material wird.

Und hier schafft er es, das Leid, schön im alten Sinne, auch gerne einmal laut klagend, einer Generation zu formulieren, unser trauriges Leben in den Städten, unsere Verwöhntheit die jede Klage obszön macht, aber das kann es doch nicht gewesen sein, das Glück, oder? Wie gut Gras riecht. Schnee knirscht oder eine stützende Hand tut. Natur, Kinder, die Freundlichkeit der Welt – Dinge, die ihm, wie Wolfgang Herrndorf sagte, «den Stecker ziehen». Sie gräbt Fabian Hinrichs Arbeit aus. Wir haben keine Zeit mehr für unsere Kinder, die Oma holt sie ab, die Natur ist bio und wenn man auf dem Gehweg stehenbleibt, wird man weggerempelt. Aber das ist nicht alles. Das kann doch nicht alles sein. Da ist doch noch mehr.

Fabian Hinrichs Arbeit hat ein hohes Pathos und es resultiert aus der Sorge um diese Dinge. Um die Frage: Was ist das überhaupt noch, diese von Schiller aufgebrachte Figur, der Mensch. Dieses von Don Carlos und seinem Vater Philipp gleichermaßen gesuchte Geschöpf? Wie kann man denn so was im Leben erkennen und auf der Bühne zeigen?

Für Schiller war der Affekt der Schlüssel – die unwillkürliche Träne der Anteilnahme, um sie ging es in seiner Dramatik. Es ging um dieses Dritte in uns, das uns Allgemeine. Nach ihm suchen die Abende von Fabian Hinrichs, daher ihr Pathos. Sie sind dramatische Epen: Auf der Bühne erzählte Welt.

Und das Epische verbindet ihn, auf eine hintertürige Weise, mit Peter Handke. Mit diesem stolzen, frohen, staunenden Lumpensammlergang durch die Welt: mal schauen, was da so herumliegt an bedrohlichen Fremdstoffen, Ideologien, Schuldgefühlen, Bildern, Geschichte. Der Erzähler Hinrichs ist in seinen eigenen Abenden dem stauendenden Dramenerzählern der späten Stücke von Peter Handke, ihrem Zorn, ihrer Sinnlichkeit gar nicht unähnlich. Aber es ist eben so, als würde Handke plötzlich selber sein Stück «Immer noch Sturm» spielen. Als euphorischer «Barfußprediger» ist Fabian Hinrichs in den letzten Jahren gelobt worden, als tanzender «Diskurs-Derwisch». Und das würde einem Barfußenthusiasten wie Handke sicher gefallen.

Für mich ist Fabian Hinrichs kein Prediger, vielmehr ist er ein Exorzist. Ein Entgifter. Aufgewachsen bin ich mit den Renegaten ihrer eigenen Generation – Anklageführer in ihrer Jugend, Anklageführer im Alter. Danke, lieber Fabian Hinrichs, fürs Losmachen vom bösen «Nein», von der Entlarvung des Niedrigen, des gesunkenen Nazitums – das sind nicht mehr unsere Kategorien. Es muss doch auch anders gehen, über Politik zu sprechen, übers Müdewerden, Gewalt, das «Ganze», ohne dabei das Verhängnis und die Verluste zu bejammern, immer wieder nur die Erinnerung zu retten.

Danke Fabian, dass es so persönlich wurde, nicht privat, nein, wenn bei dir Politik ins Spiel kommt, meinetwegen auf Stelzen, oder im Krakenkostüm, aber deine Bemühung, dein Staunen schafft ein eigenes Vokabular. Die «hohe Kunst» sieht heute anders aus als – das verdanken wir auch dir. Sie ist noch immer Abenteuer, Zweifel, Begabung, Einsicht, Können. Sie braucht Schauspieler nicht als Spielzeug, sondern Medien – «das den Durchschein Verkörpernde», wie Botho Strauß sagte. Sie sind es nicht. Aber ohne sie wäre es nicht.

 

Laudatio anlässlich der Verleihung des Ulrich Wildgruber Preises

25.1.2014